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Inhaltsverzeichnis ein-/ausklappen
- Was Peak-Erlebnisse können und was nicht
- Peak ist Zustand. Veränderung ist Eigenschaft.
- Warum Peak so attraktiv ist
- Wo wir das überall sehen
- Sexualität
- Spiritualität und Gemeinschaft
- Business
- Adrenalin und Abenteuer
- Das ist der Punkt: Integration statt Jagd
- Wofür investieren wir und wofür nicht?
- Zu guter Letzt
- FAQ
Warum wir Erlebnisse kaufen, aber Veränderung meiden
Neulich ist mir etwas aufgefallen, das wir tendenziell überall beobachten können: Wir sind oft bereit, für Peak-Erlebnisse erstaunlich viel Geld, Zeit, Aufmerksamkeit, Energie zu investieren. Und gleichzeitig knausern wir genau dort, wo unser Leben kontinuierlich leichter, freier und friedlicher werden könnte.
Peak-Erlebnisse sind diese Momente, die uns für kurze Zeit anheben: das Retreat, das Festival, die Friedensmeditation mit tausenden von Menschen, das Business-Event, das uns „endlich wieder motiviert“, der Berggipfel, der Bungee-Sprung oder auch der Orgasmus – ein Moment, in dem alles plötzlich weit wird.
Das ist nicht falsch. Im Gegenteil: So ein Peak kann wertvoll und auch wunderschön sein. Aber ein Gipfelerlebnis ist nicht Praxis und ändert für sich genommen unser Leben in der Regel nicht nachhaltig.
Was Peak-Erlebnisse können und was nicht
Peak-Erlebnisse können uns zeigen: Ah, so fühlt sich das an. Oder auch: Wow, dazu bin ich in der Lage! So kann Verbundenheit schmecken. So kann Freiheit klingen. So kann Frieden im Körper aussehen. So kann Lust sein. So kann Mut sich anfühlen.
Ein Peak ist wie ein Fenster, das kurz aufgeht. Wir sehen eine Landschaft, von der wir vorher nicht wussten, dass sie existiert.
Das Problem beginnt da, wo wir glauben: Weil wir es einmal erlebt haben, sind wir jetzt dort angekommen.
Und dann passiert oft etwas Frustrierendes: Der Alltag kommt zurück. Der Körper wird wieder „normal“. Das Nervensystem fällt in alte Muster. Beziehungen sind wieder… Beziehungen. Arbeit ist wieder Arbeit. Gedanken sind wieder Gedanken.
Und plötzlich wirkt das Peak-Erlebnis wie eine Erinnerung an etwas, das wir nicht halten können. Oder schlimmer: wie ein Beweis, dass mit uns selbst etwas nicht stimmt.
Peak ist Zustand. Veränderung ist Eigenschaft.
Ein Peak ist ein kurzer, intensiver Zustand und kann sich wie ein Hoch anfühlen. Echte, langfristige Veränderung ist eine Eigenschaft. Sie ist stabil, verkörpert, tragfähig.
Ein Peak kann uns zum Beispiel zeigen, dass Frieden möglich ist. Aber Frieden als Grundton des eigenen Lebens entsteht nicht nur durch einen Moment, sondern durch das, was wir täglich kultivieren.
Es ist wie beim Bergsteigen: Ein Gipfelfoto beweist, dass wir oben waren. Aber wenn wir öfter hoch wollen oder wenn wir wollen, dass unser Körper das gut trägt, brauchen wir Training, Regeneration, Technik, Kontinuität.
Oder im Business: Ein inspirierender Vortrag kann uns für 48 Stunden euphorisieren. Aber eine Unternehmenskultur, die Menschen schützt, Klarheit schafft und Konflikte gut hält, baut sich nicht aus Euphorie. Sie baut sich aus Beziehung, Sprache, Strukturen und aus der Bereitschaft, dranzubleiben, wenn es unsexy wird. In Unternehmen sehen wir dasselbe Muster wie im Privaten: Budgets für Events und Motivationsveranstaltungen sind oft leichter zu bekommen als kontinuierliche Investitionen in Kulturarbeit, Supervision, Führungsentwicklung und gute Prozesse.
Warum Peak so attraktiv ist
Peak belohnt sofort. Und das ist ein riesiger Punkt.
Ein Peak gibt Dinge wie:
- Gänsehaut
- Story
- „Wow“
- Anerkennung („Ich war da!“)
- Dopamin („Ich fühle mich lebendig!“)
Praxis dagegen gibt am Anfang oft:
- Widerstand
- Langeweile
- Scham
- Ungeduld
- das Gefühl, „es bringt doch nichts“
Und dann ist da noch etwas. Kontinuierliche Veränderung führt uns an Stellen, die wir lieber vermeiden. Denn echte Veränderung heißt oft:
- Grenzen setzen
- ehrlich sein
- alte Muster sehen
- Verantwortung übernehmen
- Traurigkeit fühlen
- innere Konflikte aushalten
- uns regulieren statt eskalieren oder flüchten
Peak-Erlebnisse können genau das kurz überstrahlen und das kann entlastend sein. Aber wenn es dabei bleibt, wird Peak schnell zur Flucht.
Und wenn wir merken, dass wir ohne Peaks kaum noch aushalten können, wie sich unser Alltag anfühlt, kann das ein wichtiger Hinweis sein: Vielleicht tragen wir alten Schmerz oder sogar Traumafolgen in uns, mit denen wir nicht allein bleiben müssen. Dann kann es sinnvoll sein, therapeutische oder andere fachliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
Wo wir das überall sehen
Sexualität
Ein Orgasmus ist ein Peak. Und ein wunderschöner, wichtiger noch dazu. Aber er sagt nicht automatisch etwas darüber, wie sicher, verbunden und frei wir uns grundsätzlich fühlen. Wir können Peaks haben und trotzdem in einem Beziehungsfeld leben, das eng, unsicher oder leistungsorientiert ist.
Und wir können lernen, die Bedingungen zu verändern, unter denen Lust überhaupt entstehen kann: Sicherheit, Tempo, Körperkontakt, Grenzen, Vertrauen, Kommunikation.
Spiritualität und Gemeinschaft
Eine riesige Meditationsveranstaltung kann sich anfühlen wie: „Wir retten die Welt.“ Und vielleicht ist das auch ein echter Geschmack von Verbundenheit.
Aber Frieden im Alltag zeigt sich oft ganz unromantisch: im Tonfall beim Streit, im Atmen vor der Antwort, im Nein, das nicht entwertet, im Ja, das nicht übergeht.
Business
Events, Masterclasses, Kickoff-Meetings sind die Klassiker. Wir sind euphorisch, schreiben Dinge auf, haben „endlich wieder Sinn“. Und ein paar Wochen später frisst der Alltag alles.
Wir sind nicht „zu doof“. Es ist einfach so, dass Motivation kein anderes System ersetzen kann und Kultur nicht aus Post-its entsteht, sondern aus Verhalten, Sprache, Grenzen und konkreten Strukturen.
Adrenalin und Abenteuer
Bungee, Fallschirm, Extremwandern, Gipfel. Das kann absolut echt sein – ein Initiationsmoment, ein Kontakt mit Lebendigkeit.
Aber wenn das normale Leben sich danach leer anfühlt, dann ist nicht „das Leben“ das Problem. Dann fehlt oft etwas an Erdung und Körpererfahrung im Alltag, an Sinn, Rhythmus, Beziehung oder an der Fähigkeit, Lebendigkeit im Kleinen zu spüren.
Das ist der Punkt: Integration statt Jagd
Wir können Peak-Erlebnisse wie einen Leuchtturm sehen. Sie zeigen Richtungen, Möglichkeiten und Weite. Aber sie sind kein Zuhause.
Das Zuhause entsteht durch Integration, Verkörperung. Und Integration ist meistens leise.
Integration heißt:
- kleine Schritte
- Wiederholung
- Körperarbeit
- Nervensystempflege
- ehrliche Gespräche
- eine Praxis, die nicht davon abhängt, ob wir gerade „Lust“ haben
- Hilfe annehmen (auch wenn es nicht glamourös ist)
- ein Umfeld bauen, das uns wirklich trägt
Neurobiologisch heißt das: Unser Gehirn und unser Nervensystem brauchen Wiederholung und neue Erfahrungen im Kleinen, damit überhaupt neue Bahnen entstehen und Vertrauen in das „Neue Normal“ wachsen kann. Ein einziger Kick reicht dafür nicht. Er ist eher der Geschmack, der uns zeigt, in welche Richtung es gehen könnte.
Und ja: Das kostet auch etwas. Nicht nur Geld. Sondern Zeit, Aufmerksamkeit, Priorität.
Wofür investieren wir und wofür nicht?
Wofür geben wir Geld aus?
(Events, Technik, Reisen, Kurse, „Kick“-Dinge …)
Wofür geben wir Zeit aus?
(Scrollen, Planen, Reden über Veränderung …)
Wofür geben wir Aufmerksamkeit aus?
(Peak-Fantasien, Heilsversprechen, das nächste Highlight …)
Und wo knausern wir?
(Therapie, Training, Begleitung, tägliche Praxis, Integration, echte Ruhe …)
Und falls wir merken: „Oh, ich investiere mega in Peak und wenig in Praxis“, dann ist das kein Grund für Selbstkritik, sondern einfach eine Information. Es ist ein ehrliches Bild davon, wie wir bisher versucht haben, mit unserem Leben klarzukommen.
Schon, dass wir uns diese Fragen ehrlich stellen, ist ein Schritt weg von der Peak-Jagd hin zu echter Veränderung und Gestaltung. Aus psychologischer Sicht ist das der Moment, in dem aus „Ich funktioniere halt so“ langsam „Ich kann wählen“ wird.
Und dann, ganz pragmatisch:
Was wäre eine kleine, kontinuierliche Investition, die uns und damit unser Leben wirklich verändert – nicht spektakulär oder instagrammable, aber tragfähig.
- Vielleicht 10 Minuten täglich.
- Vielleicht 1 Termin im Monat.
- Vielleicht 1 ehrliches Gespräch pro Woche.
- Vielleicht 1 Grenze, die wir endlich setzen.
- Vielleicht 1 Struktur, die uns entlastet.
Zu guter Letzt
Ich will Peak-Erlebnisse nicht schlechtreden. Manchmal sind sie ein Geschenk. Manchmal sind sie auch der Beginn von etwas. Und manchmal sind sie Medizin.
Doch wenn wir nur noch von Peak zu Peak leben, dann leben wir nicht mehr unser Leben, dann konsumieren wir Zustände.
Wir sehnen uns nicht nur nach dem Gipfel. Wir sehnen uns nach einem Alltag, der nicht gegen uns arbeitet, nach einem Leben, das nicht ständig „überstanden“ werden muss, nach Frieden, der nicht von Ausnahmemomenten abhängig ist.
Ein Peak zeigt uns, was möglich ist.
Praxis macht diese Möglichkeit bewohnbar.
FAQ
Was meinst du mit „Peak-Erlebnissen“?
Mit Peak-Erlebnissen meine ich Momente, in denen unser Erleben kurzfristig „hochfährt“: das Retreat, das Festival, die riesige Friedensmeditation, ein Business-Event, der Bungee-Sprung oder auch der Orgasmus – ein Moment, in dem alles plötzlich weit wird. Solche Peaks können sich intensiv, verbunden, frei oder extrem lebendig anfühlen, sind aber zeitlich begrenzte Zustände, keine dauerhaft integrierten Veränderungen.
Sind Peak-Erlebnisse etwas Schlechtes?
Nein. Peak-Erlebnisse können wertvoll, wunderschön und teilweise sogar richtungsweisend sein. Sie zeigen uns: Ah, so kann sich Frieden, Verbundenheit oder Freiheit anfühlen. Problematisch wird es erst, wenn wir glauben, ein einzelner Gipfelmoment würde unser Leben automatisch nachhaltig verändern oder wenn wir Peaks nutzen, um dem Alltag, innerem Schmerz oder ungelösten Themen dauerhaft auszuweichen.
Was ist der Unterschied zwischen Peak und Praxis?
Ein Peak ist ein kurzer, intensiver Zustand. Praxis ist das, was wir immer wieder tun und dadurch als Eigenschaft in uns verankern. Peak zeigt uns, was möglich ist und Praxis macht es bewohnbar. Praxis bedeutet: kleine Schritte, Wiederholung, Körper- und Nervensystemarbeit, ehrliche Gespräche, Grenzen, Strukturen. Sie ist oft unspektakulär, aber genau dadurch entsteht ein stabiler Grundton von mehr Frieden, Freiheit und Verbundenheit.
Warum fühlen sich Peaks leichter an als echte Veränderung?
Peaks belohnen unser System sofort: Gänsehaut, „Wow“-Momente, Story, Anerkennung, Dopamin-Schub. Praxis konfrontiert uns dagegen zunächst oft mit Widerstand, Langeweile, Scham, alten Mustern oder unangenehmen Gefühlen. Echte Veränderung heißt: Verantwortung übernehmen, Grenzen setzen, Traurigkeit zulassen, innere Konflikte aushalten. Das ist weniger glamourös, aber langfristig tragfähiger als jeder einzelne Kick.
Woran merke ich, dass ich eher „Peak-Jagd“ betreibe als Veränderung?
Ein mögliches Zeichen: Du buchst immer wieder neue Events, Kurse oder Reisen, fühlst dich kurzfristig inspiriert oder „wie neu geboren“ und ein paar Wochen später ist fast alles wie vorher. Vielleicht fühlst du dich zwischen den Highlights leer, genervt vom Alltag oder schnell frustriert darüber, dass du die Zustände nicht halten kannst. Wenn du merkst, dass du ohne Peaks kaum noch aushältst, wie sich dein Leben an normalen Tagen anfühlt, lohnt sich ein genauer Blick und manchmal stecken dahinter alte Verletzungen oder Traumafolgen, mit denen du nicht allein bleiben musst.
Was kann ich konkret tun, um mehr Praxis und Integration zu leben?
Wichtiger als das nächste große Erlebnis sind kleine, regelmäßige Schritte: zum Beispiel 10 Minuten Körper- oder Atempraxis am Tag, ein ehrliches Gespräch pro Woche, eine Grenze, die du wirklich ziehst, ein Termin im Monat zur Begleitung (Coaching, Therapie, Supervision), oder eine Struktur, die deinen Alltag entlastet. Hilfreich ist auch, dein Nervensystem bewusst zu pflegen: Pausen, Schlaf, Bewegung, Kontakt, Erdung, statt permanenten Kick zu suchen.
Warum sprichst du in diesem Zusammenhang von Nervensystem, Dopamin und Trauma?
Weil Peak und Praxis nicht nur „Willenssache“ sind, sondern viel mit unserem Nervensystem zu tun haben. Peaks geben starke, schnelle Reize und Dopamin-Schübe, die sich sehr lebendig anfühlen. Nachhaltige Veränderung entsteht hingegen durch Wiederholung und sichere, regulierende Erfahrungen, in denen unser System neue Bahnen anlegen kann. Wenn Menschen viel Schmerz oder Trauma in ihrer Geschichte tragen, kann die Jagd nach Peaks auch eine unbewusste Strategie sein, um diesen Schmerz kurz zu überdecken. Deshalb erwähne ich explizit, dass fachliche Unterstützung sinnvoll sein kann.
Für wen ist dieser Beitrag nicht ausreichend?
Wenn du aktuell unter starken Depressionen, Panik, traumatischen Erinnerungen oder dem Gefühl völliger Überforderung leidest, reicht Lesen allein in der Regel nicht aus. Dann kann es wichtig sein, dir psychotherapeutische, ärztliche oder spezialisierte Beratungsunterstützung zu holen. Wenn du in einer Situation mit körperlicher, seelischer oder sexualisierter Gewalt bist, steht dein Schutz an erster Stelle. Hier sind Beratungsstellen, Hilfetelefone oder Vertrauenspersonen vor Ort entscheidend.



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