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Ein guter Streit kann Freundschaften und Beziehungen nicht zerstören, sondern vertiefen. Denn Streit gehört zum Leben dazu. Doch gut zu streiten will gelernt sein.
Immer wieder treffe ich auf Menschen, die Konflikten aus dem Weg gehen aus Angst, jemandem weh zu tun oder selbst verletzt zu werden. Oder weil sie dem Irrglauben aufsitzen, der Konflikt habe „nichts mit ihnen zu tun“, sondern sei allein das Thema des anderen. Gerade in spirituellen Kreisen höre ich oft: „Das ist deins. Schau du mal hin.“
Ganz ehrlich? Dieser Satz macht mich inzwischen richtig wütend.
Nicht, weil ich die Idee dahinter grundsätzlich ablehne – ja, es lohnt sich oft, nach innen zu schauen. Aber wenn dieser Satz dazu dient, sich selbst aus der Verantwortung zu ziehen und die eigene Beteiligung zu leugnen, dann wird er toxisch. Er verhindert Verbindung und kann subtil überheblich wirken: Ich bin durch mit meinen Themen, du noch nicht. Das ist keine Augenhöhe.
Ob wir uns auf einen Streit einlassen oder nicht, hat viel mit Wertschätzung zu tun. Ich gehe nur in einen echten Konflikt mit Menschen, die mir wichtig sind. Es ist ein Zeichen von Beziehung und von innerer Reife.
Ich habe erlebt, wie Beziehungen nicht durch Streit zerbrechen, sondern durch das Schweigen über das, was zwischen zwei Menschen steht. Dabei liegen in einem ehrlichen, echten Streit große Geschenke. Er bringt Klarheit, Bewegung und nicht selten einen echten Entwicklungsschub.
Was ist ein guter Streit?
Oft wird Streit mit einem reinigenden Gewitter verglichen und genau so fühlt es sich für mich an.
Die Blitze – hell, scharf, elektrisch – beleuchten, was sonst im Schatten liegt: Muster, Machtverhältnisse, Abhängigkeiten. Wenn wir uns auf einen Streit einlassen, können wir nicht mehr daran vorbeischauen. Scheinbare Harmonie zerbricht und für einen Moment wird es chaotisch. Doch dieses Chaos trägt die Chance in sich, dass sich etwas neu ordnet.
Das Donnergrollen dieses Gewitters sind unsere Emotionen. Sie brechen sich laut, ungestüm und ungefiltert Bahn. Diese Gefühle haben oft zwei Quellen:
- unsere aktuelle Beziehung mit all ihren Dynamiken und Mustern,
- und alte, unverarbeitete Erfahrungen, die durch das Jetzt berührt werden.
Ein guter Streit bringt beides auf den Tisch. Und dann stellt sich die Frage: Wie gehen wir mit dem um, was dort liegt?
Wenn mir die Beziehung nicht wirklich wichtig ist, kann ich entscheiden, ob ich hinschaue oder gehe. Dann braucht es keine weitere Auseinandersetzung, kein Ringen um ein Miteinander.
Doch wenn mir der andere Mensch am Herzen liegt, komme ich nicht darum herum, hinzuschauen. Ich muss den Haufen auf dem Tisch sortieren.
Dieser Faden gehört zu mir.
Jener zu dir.
Manche sind alt, andere frisch.
Was davon hat mit mir zu tun?
Was mit dir?
Was mit uns?
Manches braucht Zeit.
Manches braucht ein Gespräch.
Und manches braucht Veränderung oder Loslassen.
Verantwortung für Gefühle – und das Recht, verletzt zu sein
Gerade in spirituellen Kreisen höre ich oft: „Jeder ist für seine eigenen Gefühle verantwortlich.“ Und ja, das stimmt. Zu einem großen Teil. Aber es ist nicht die ganze Wahrheit.
Denn ich bin verletzbar. Ich bin ein fühlendes Wesen. Wenn mir jemand verbal oder durch eine Handlung eine runterhaut – bewusst oder unbewusst –, dann spüre ich das. Ich bin irritiert, verletzt, vielleicht wütend oder traurig. Und ich gehe davon aus, dass der andere das eigentlich nicht wollte. Deshalb spreche ich es an.
Doch wenn dieser Mensch immer wieder auf dieselbe Weise handelt ohne Reflexion, ohne Bereitschaft, sich einzulassen, dann trifft mich das irgendwann tief. Bin ich in diesem Fall für meine Gefühle verantwortlich?
Ja. Ich bin dafür verantwortlich, wie ich mit meinen Gefühlen umgehe. Ich bin dafür verantwortlich, mich nicht von ihnen bestimmen zu lassen und meine Grenzen zu setzen. Ich kann mich in Sicherheit bringen, mich sortieren, mich stabilisieren. Ich kann und sollte mich auch fragen, warum ich überhaupt in diese Situation geraten bin. Denn ja: Es hat immer auch mit mir zu tun.
Aber die Gefühle selbst? Die wurden in Beziehung ausgelöst. Sie sind eine Reaktion auf etwas Reales, auf etwas, das zwischen uns geschieht. Wenn der andere sich einer ehrlichen Auseinandersetzung verweigert, wird Verbindung unmöglich. Dann geht die Beziehung auseinander, sofern ich frei und stark genug bin, um zu gehen.
Die andere Variante, die ich leider noch oft sehe, ist: bleiben. Sich weiter verletzen lassen. Scheinharmonie aufrechterhalten. Dem Konflikt aus dem Weg gehen um den Preis der eigenen Wahrheit.
Für mich ist das eine Form von Selbstverleugnung. Und ja: In diesem Fall liegt die Verantwortung ganz bei mir.
Darf Chaos sein? – Emotionen im Streit zulassen
Ein Gewitter ist laut, wild und chaotisch. Es folgt keiner Ordnung, sondern entlädt sich. Und genau das braucht es manchmal auch in Beziehungen.
Ist die Verbindung stark genug, um solch einem Chaos Raum zu geben? Dürfen Wut, Aggression und Verletzung da sein, auch wenn ihre Wurzeln nicht nur im Hier und Jetzt liegen, sondern in alten Geschichten, alten Wunden?
Ein guter Streit ist ein Geschenk. Weil wir uns ganz zeigen dürfen. Weil wir nicht perfekt sein müssen. Weil wir da sein dürfen, mit allem, was uns ausmacht.
Für mich ist das ein echter Liebesbeweis. Für denjenigen, der fühlt und sich zeigt – und für den, der empfängt und bleibt.
Denn wer solche Gefühle empfangen kann, bekommt den ganzen Menschen. Mit all seiner Verletzlichkeit. Und das geht nur mit Vertrauen.
Eine Freundin sagte mir neulich: „Ich kann nur bei einem Menschen wütend sein, weil ich nur bei ihm weiß, dass es nichts an unserer Beziehung ändert.“
Wie ein guter Streit aufgebaut sein könnte
1. Chaos zulassen
Ein guter Streit verläuft nicht linear, aber er hat Phasen. Die erste ist das Chaos.
In dieser Phase ist fast alles erlaubt: „Immer! Nie!“, Türen knallen, Kissen fliegen, absurde Vorwürfe, sich widersprechende Sätze. Laut, wild, unübersichtlich.
Ich habe gelernt, meine Wut zuzulassen und gleichzeitig innerlich einen kleinen Beobachter zu aktivieren. Ein Teil von mir tobt wie Rumpelstilzchen durchs Zimmer.
Ein anderer sitzt oben auf einem Berg, schaut leise kichernd zu und sagt: „Aha. Interessant.“
Diese gleichzeitige Perspektive hilft mir, meine Muster zu erkennen, ohne mich sofort ändern zu müssen. Ich darf noch rumpeln, während ich innerlich schon beginne zu sortieren.
Und auch wenn’s paradox klingt: Gerade in dieser chaotischen Phase ist Zuhören schon wichtig. Wenn ich mein Gegenüber ernst nehme, höre ich auch dann zu, wenn meine eigene Wut erst einmal lauter ist.
2. Rückzug und Innenschau
Wenn alles gesagt ist und alles auf dem Tisch liegt, braucht es Rückzug: Zeit zum Durchatmen. Zum Sortieren.
Ich frage mich: Was hat das alles mit mir zu tun? Welche alten Muster wurden berührt? Welche Emotionen gehören zu diesem Moment und welche sind alt? Was habe ich auf den anderen projiziert? Und was trägt der andere vielleicht an Bildern über mich?
Manchmal dauert es eine Weile, bis ich mir den Gedanken erlaube: Vielleicht hat der andere recht. Allein dieses innere Zulassen verändert oft schon etwas. Denn auch wenn ich später merke: Nein, das stimmt für mich nicht, bin ich nicht mehr im Widerstand. Ich kann den anderen sehen und bleibe dabei bei mir.
Das gibt mir die Freiheit zu prüfen: Möchte und kann ich mein Verhalten ändern, damit der andere sich nicht mehr verletzt fühlt? Oder ist mein Verhalten für mich passend und wir müssen darüber sprechen?
Und wenn ich merke, dass ich wirklich verletzt habe, vielleicht nicht einmal den anderen gemeint habe, sondern eine alte Geschichte in mir abgespult wurde,
dann ist es Zeit, „Es tut mir leid“ zu sagen. (Doch dazu später mehr.)
3. Reflektieren und Verstehen
Nach dem Insichgehen folgt der nächste Schritt: Wir kommen wieder zusammen. Jede*r hat sich den Haufen auf dem Tisch angeschaut und wir erzählen uns, was wir darin erkannt haben.
Ich-Sätze helfen. Keine „Du hast immer!“ oder „Nie machst du!“ mehr. Stattdessen: „Ich habe gemerkt, dass ich …“, „Ich spüre …“, „Bei mir kommt an, dass …“
Manchmal geht es darum, dem anderen zu zeigen, woher das eigene Verhalten kam: Welche Verletzung, welches alte Muster, welche Angst lag darunter?
Manchmal geht es darum, dem anderen zu sagen, was sein Verhalten in einem ausgelöst hat: „Als du das gesagt hast, fühlte ich mich …“

Ein neues gemeinsames Muster weben
Aktives Zuhören ist jetzt Gold wert. Nicht nur nicken, sondern wiederholen: „Ich habe gehört, dass du …“ So kommen Missverständnisse ans Licht. (Und ja – ich finde es immer noch ein Wunder, dass wir Menschen uns überhaupt über Wörter verständigen können. So viel hängt daran.)
Wirkliches Verstehen verändert etwas. Oft braucht es dann gar keine großen Änderungen. Manchmal genügt es, sich wirklich gesehen zu fühlen. Dann kann sich etwas lösen wie ein Knoten, der sich plötzlich von selbst entwirrt.
Und wenn doch Veränderung nötig ist? Dann ist sie meist gar nicht so groß, wie wir anfangs dachten.
4. Verantwortung und Verzeihen
„Es tut mir leid.“ Vier kleine Worte. Und doch so schwer. Ich erlebe immer wieder, wie viel Überwindung sie kosten selbst in Beziehungen, die von Liebe getragen sind. Warum eigentlich?
Vielleicht, weil sie klingen wie ein Schuldeingeständnis. Als würden wir sagen: Ich war der Täter bzw. die Täterin. Ich habe dir wehgetan. Ich bin schuldig.
Doch manchmal ist da gar keine Schuld im juristischen oder moralischen Sinn. Manchmal bin ich einfach jemandem zu nahe getreten, ohne es zu merken. Oder ich habe aus einem unbewussten Muster heraus gehandelt. Vielleicht war ich nicht böse, aber ich war wirkungsvoll. Und der andere Mensch hat sich verletzt gefühlt. Und genau das tut mir leid.
Das „Es tut mir leid“ bedeutet: Ich habe dich gesehen. Ich nehme deine Verletzung ernst. Ich bin bereit, meinen Anteil anzuschauen.
Und ja, manchmal gehört auch Schuld dazu.
Aber oft ist es nicht die Schuld selbst, die so schwer wiegt, sondern unser Urteil darüber. Unser Widerstand. Unsere Angst, uns selbst als „schlecht“ zu sehen. Dabei ist Reue kein Untergang, sie ist ein Aufbruch. Ein Schritt aus der Trennung zurück in die Verbindung.
Vielleicht ist genau hier der Punkt, an dem viele Konflikte scheitern: Die Angst vor Schuld, vor Schwäche, vor Gesichtsverlust. Und dabei geht es gar nicht um Recht oder Unrecht. Sondern darum, einander zu sehen und gesehen zu werden.
Ob ich wirklich Verantwortung übernehme für das, was mein Verhalten in dir ausgelöst hat, ist eine eigene Frage. Aber „Es tut mir leid“ darf der Anfang sein.
Diese Phasen können selbstverständlich in Intervallen auftreten und sich vermischen.
Geschenke erkennen – und Beziehung nicht aus Versehen töten
Ein guter Streit ist nicht einfach, aber er trägt kostbare Geschenke in sich. Damit wir sie erkennen und annehmen können, braucht es bestimmte Fähigkeiten. Nicht Perfektion. Sondern Mut. Und Menschlichkeit.
Fähigkeiten, die einen guten Streit tragen:
- Chaos und Disharmonie aushalten
- keine vorschnellen Lösungen suchen
- authentisch sein
- die eigenen Grenzen kennen und spüren, ob sie verschiebbar sind
- Vertrauen: in uns selbst, in unser Gefühl, in die Beziehung
- Klarheit und innere Ausrichtung
- die Stärke, sich im Schwachsein zu zeigen
- zuhören können, auch dann, wenn es wehtut
- Bereitschaft und die Fähigkeit zur ehrlichen Selbstreflexion
- Selbstliebe
- den Willen, den anderen wirklich verstehen zu wollen
- nicht recht haben müssen
- sich selbst verzeihen können (Dem anderen müssen wir oft gar nicht verzeihen, denn wenn wir ihn wirklich verstehen, gibt es meist nichts mehr zu verzeihen.)
- Demut
- über sich selbst lachen können
Was eine Beziehung auf Augenhöhe fast immer tötet:
- anhaltende Ignoranz
- Respektlosigkeit
- Sarkasmus
- Rückzug ohne Rückmeldung, also ein harter Kommunikationsabbruch ohne erkennbare Bereitschaft zur späteren Klärung
- im Chaos hängen bleiben, ohne Innenschau oder Entwicklung
- emotionale oder körperliche Gewalt
- sich über den anderen stellen
Diese Listen sind nicht vollständig. Denn jede Beziehung ist anders. Aber sie sind ein Anfang und vielleicht eine Einladung.
Mir begegnen so selten Menschen, die wirklich konfliktfähig sind, dass ich mich inzwischen tatsächlich bedanke, wenn mir jemand seine Wut schenkt und offen mit mir in einen Streit geht. Es ist keine Selbstverständlichkeit. Es ist ein Zeichen von Mut. Und von Beziehung.
Ich streite mich mit Menschen, die es mir wert sind. Ich muss bereit sein, meine Energie, meine Zeit und mein Herz einzubringen. Ich streite mich also nicht mit dem Gartennachbarn über zu hohe Hecken. Der Aufwand ist mir zu schade. Und ich streite auch nicht aus Prinzip, aber ich gehe dem Streit nicht aus dem Weg, wenn er an meine Tür klopft.
So, wie ich dafür plädiere, schon in der Schule – oder besser noch früher – Kindern beizubringen, ihre Gefühle zu fühlen und zu reflektieren, so wünsche ich mir, dass sie auch lernen dürfen, wie ein guter Streit gelingt.
Seien wir mutig. Geben wir Gefühlen und Konflikten einen angemessenen Raum im Privaten wie im Öffentlichen. Denn nur was Raum bekommt, kann sich verwandeln.
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