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Wenn Empfangen zu gefährlich ist – und Geben sicherer scheint
Wenn du dein Leben lang auf einer Insel lebst, auf der es nur Orangen gibt, dann weißt du nicht, dass es auch Bananen gibt. Du kannst sie dir nicht einmal vorstellen. Orangen sind halt „normal“. So schmeckt das Leben eben.
Und selbst wenn es manchmal sauer oder bitter ist, es ist vertraut.
Wie es sich anders anfühlen könnte, ist außerhalb deines Wahrnehmungsfeldes. Und selbst, wenn du eine Banane sehen würdest du wüsstest gar nicht, was es ist. Ob sie gefährlich ist. Ob du ihr trauen kannst. Ob sie dich satt macht. Ob sie dich verletzt.
Ich erinnere mich gut an das weinende Kind, das ich war, allein in meinem Zimmer. Dieses Kind war allein mit all dem, was zu viel war. Empfangen hieß: immer auf der Hut sein zu müssen, aus heiterem Himmel angebrüllt zu werden, manipuliert und mit meinen Gefühlen und Wahrnehmungen in Frage gestellt zu werden.
Empfangen war nichts, was nährte, sondern etwas, das wehtat. Und irgendwann wurde es sicherer, lieber nichts zu wollen. Lieber nichts zu brauchen. Lieber stark zu sein. Wie es sich anfühlt zu empfangen, einfach so, ohne Bedingungen oder Gefahr, das war mir ewig nicht bewusst.
Die zwei Überlebensstrategien (nach Verena König)
Verena König, Trauma-Therapeutin, beschreibt zwei archetypische Traumafolgestrategien:
Fusionsstrategie – Verbindung um jeden Preis
- Fokus auf Harmonie
- Selbstaufgabe
- Verlust des eigenen Raums
- starke Co-Abhängigkeit
Autonomie & Rückzugsstrategie – Selbstständigkeit um jeden Preis
- Unabhängigkeit
- Rückzug statt Bindung
- innere Einsamkeit
- Kontrolle statt Nähe
Ich selbst kenne beide Bewegungen in mir, doch die Tendenz zur Autonomie ist in meinem System stärker ausgeprägt.
Autonomie als Überlebensstrategie
Ich bin gut im Geben. Ich kann Räume halten. Ich kann zuhören. Ich kann da sein. Ich habe gelernt, Verantwortung zu übernehmen, meine Anteile zu reflektieren, mich selbst zu hinterfragen.
Und ich habe darin sogar eine Art Macht gefunden, eine gesunde, handlungsfähige Form von Einfluss. Wenn ich bei mir schaue, was ich tun kann, bleibe ich nicht ohnmächtig.
Aber ich habe dabei auch etwas gelernt, das tiefer sitzt als alles andere: Dass ich lieber die bin, die gibt. Weil das bedeutet, dass ich nichts empfangen muss. Denn Empfangen – das war früher eben nie etwas Schönes.
Spirituelle Selbstverantwortung – und ihre Schattenseiten
Ich bin ein spiritueller Mensch. Ich glaube an Energie, an Resonanz, an innere Arbeit und an die Kraft der Selbstverantwortung.
Aber ich glaube nicht an diesen gefährlichen Satz, den man in spirituellen Kreisen leider immer noch viel zu oft hört: „Wenn du ein Problem in deiner Beziehung hast, dann hat das nur mit dir zu tun.“
Dieser Satz kann zutiefst verletzend sein. Er kann uns dort, wo wir gerade beginnen, unser Inneres zu verstehen, wieder in alte Muster von Schuld, Selbstzweifel und endloser Selbstoptimierung zurückwerfen.
Ja, wir tragen Verantwortung für unsere Gefühle. Und ja, es lohnt sich immer, die eigenen Anteile zu erforschen. Aber das heißt nicht, dass der andere keinen Anteil hat. Es heißt nicht, dass Grenzverletzungen, emotionale Kälte oder destruktives Verhalten plötzlich „dein Thema“ sind, nur weil du sie erlebst.
Spiritualität ohne Mitgefühl wird schnell zur spirituellen Gaslighting. Und die Idee, dass wir durch unsere „Unbewusstheit“ alles selbst verursachen, ist nicht erwacht, sie ist übergriffig.
Wirkliche Verbindung braucht ein Miteinander. Und sie braucht den Mut, nicht nur bei sich selbst hinzuschauen, sondern auch hinzusehen, was tatsächlich geschehen ist. Manchmal ist das unbequem, aber es ist ehrlich. Und nur dort beginnt echte Veränderung.
Die Schwierigkeit, Opfer zu sein – und warum Anerkennung heilsam ist
Es gibt Momente, in denen alle innere Arbeit, alles Suchen nach einem Haken in sich selbst, ins Leere läuft. Nicht, weil man nicht tief genug schaut, sondern weil da einfach nichts mehr ist, was man aufräumen und in sich ändern oder heilen könnte.
Und das zu erkennen, ist nicht leicht – vor allem nicht für Menschen, die es gewohnt sind, alles in sich selbst zu wandeln. Für die Autonomie ein Schutzraum ist. Eine Stärke.
Und manchmal ist genau diese Stärke das Hindernis. Weil sie verhindert, dass wir anerkennen, was wirklich war: Dass wir Opfer geworden sind. Nicht aus Schwäche. Nicht, weil wir es nicht besser wussten. Sondern, weil wir es nicht ändern konnten.
Liebe ist ein Schutzraum, der auch wie eine Rüstung wirken kann.
Es geht nicht darum, mit dem Lieben aufzuhören, sondern zum einen das überhaupt wahrzunehmen und zum anderen auch das Grenzen setzen und ggf. das Gehen als Akt der Liebe wahrzunehmen, wenn es nichts mehr zu tun gibt.
Gerade für Menschen, die die Autonomie als Überlebensstrategie gewählt haben, ist es besonders schwer, sich als „Opfer“ einer Erfahrung zu sehen. Denn das bedeutet zunächst: Ohnmacht. Ausgeliefertsein. Stillstand.
Doch es gibt Situationen – vor allem in engen Beziehungen –, in denen genau das geschehen ist. Man wurde verletzt. Übergangen. Alleingelassen. Nicht, weil man unachtsam war oder nicht genug an sich gearbeitet hätte, sondern, weil es einfach so war.
Und dann hilft keine Strategie, kein weiteres inneres „Reparieren“, keine Meditation. Dann hilft nur eines: Anerkennen. Wahrnehmen. Da sein lassen.
Das anzuerkennen, bedeutet nicht, in eine Opferhaltung zu verfallen. Im Gegenteil: Es erlaubt oft erst den Zugang zu verdrängten Gefühlen: Trauer, Wut, Schmerz. Und es entlastet von einer übergroßen Verantwortung, die man vielleicht lange für andere mitgetragen hat.
Ich kann Opfer geworden sein ohne Opfer zu sein.
Ich kann anerkennen, dass mir Unrecht getan wurde ohne meine Kraft abzugeben.
Es ist ein großer Schritt, zu sagen: Ich konnte nichts dafür. Es ließ sich nicht ändern. Ich war ausgeliefert – eine Zeit lang.
Und genau das zu fühlen, macht frei. Nicht sofort. Nicht bequem. Aber tief. Weil die Wahrheit uns immer aufrichtet. Auch dann, wenn sie uns erst zu Boden führt.
Dieses Anerkennen bringt etwas in Bewegung. Nicht nur die Gefühle, die darin festgehalten waren, sondern auch die Beziehung zu uns selbst. Denn wenn wir uns zugestehen, dass wir Opfer geworden sind, dann ehren wir uns. Wir geben uns selbst Mitgefühl statt ständiger Selbstoptimierung. Und wir schaffen einen Raum, in dem Heilung von der Wurzel her möglich wird.
Das hat nichts mit Schwäche zu tun. Es ist ein Akt der Selbstachtung. Und vielleicht ist das der eigentliche Wendepunkt: Dass wir aufhören, unsere Autonomie gegen unsere Verletzlichkeit auszuspielen und beides in uns würdigen. Dass wir erkennen: Autonomie ist wertvoll. Aber nicht alles ist mit ihr zu lösen. Und manchmal beginnt die wahre Stärke genau da, wo wir aufhören, stark zu sein.
Es ist kein Zeichen von Schwäche, zuzugeben, dass ich verletzt wurde.
Es ist ein Zeichen von Würde, dass ich es heute sehen kann,
ohne mich darin zu verlieren.
Der Kreislauf von Rückzug und Alleinsein
Manche Menschen müssen lernen, sich überhaupt erstmal selbst auszuhalten.
Aber was, wenn du dich selbst schon lange in Ordnung findest und nur niemanden hast, der dich mit deinen tiefen Gefühlen – egal, ob schöne oder herausfordernde – aushält? Was also, wenn das eigentliche Thema gar nicht Selbstablehnung ist, sondern Verlassenheit?
Manchmal ist es nicht so, dass wir „zu viel“ sind, sondern dass wir Menschen begegnen, die in ihrer eigenen Tiefe noch nie wirklich gewesen sind.
Wenn wir dann weinen, traurig sind, uns öffnen, kann das im Gegenüber etwas berühren, das lange gut verborgen lag. Etwas, das vielleicht zu schmerzhaft war, um es je zuzulassen oder zu chaotisch, zu unverständlich, zu bedrohlich.
Und so begegnet uns Ablehnung, weil wir erinnern, spiegeln, in Schwingung bringen, was lange zum Schweigen gezwungen wurde.
Verlassensein hinterlässt Spuren. Nicht nur im Außen, auch in der Beziehung zu dir selbst. Denn irgendwann lernt ein Teil in dir: „Wenn du fühlst, bist du allein.“
Und dann beginnt ein Kreislauf:
Du ziehst dich zurück, weil niemand bleibt.
Und niemand bleibt, weil du dich zurückziehst.
Was für ein Geschenk ist es dann, wenn da jemand ist, der still bei dir bleibt, der nicht gehen muss, nicht verändern muss, nicht erklären oder reparieren muss.
Der Moment, in dem dieser Kreislauf unterbrochen wird, weil jemand bleibt, weil du traurig sein darfst, ohne verlassen zu werden – das ist ein heiliger Moment. Das ist der Moment, in dem die Einsamkeit aufhört.
„Trauma geschieht in Beziehungen – und heilt in Beziehung.“
Verena König
„Traumafolgen erkennen wir daran, wie sicher, wohl und lebendig wir uns in unseren Beziehungen fühlen.“
Dann darfst du einfach nur: da sein. So wie die Menschen, die du jetzt in deinem Leben hast. Die dich traurig sehen können, ohne dich aufheitern zu wollen. Die dich fühlen lassen, ohne sich davor zu verschließen. Die dich aushalten, weil sie sich selbst halten können.
Dann wird auch dein Lachen frei, denn es gibt keinen Knoten mehr im Bauch, der dir sagt: „Pass bloß auf, wir wissen nicht, ob das bleiben kann.“
Wenn du gelernt hast zu geben, weil das sicherer war, brauchst du Zeit, um zu lernen, dass auch Empfangen sicher sein kann.
Dass Liebe nicht immer mit Bedingungen kommt.
Dass Menschen da sein können, einfach so, einfach weil du da bist.
Ich danke dir, dass du mit mir durch diese Tiefe gegangen bist.
Möge deine Stärke weich sein dürfen.
Möge dein Herz sich sicher fühlen.
Und mögest du in deiner Tiefe immer wieder Heimat finden.
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